Der schwedische Weg: Coronavirus-Erfahrungen aus Stockholm

Ich gebe es zu – ich habe eine voreingenommene Haltung denjenigen gegenüber, welche die Corona-Pandemie verharmlosen, die Stimme der Wissenschaft anzweifeln und das Ausmaß der geltenden Corona-Maßnahmen für übertrieben halten. Lange fehlte mir für diese Leute das Verständnis. Mittlerweile weiß ich aber, dass bei vielen weder Boshaftigkeit noch Ignoranz hinter dieser Einstellung steckt, sondern dass sie die Pandemie nur aus einem ganz anderen Blickwinkel betrachten als ich es tue. Neulich wurde mir das wieder einmal bewusst …

Eine alte Bekannte sagte (Anfang Oktober), es werde so ein Wirbel um das Coronavirus gemacht und sie kenne nicht einen einzigen Menschen, der sich mit SARS-CoV-2 infiziert habe, geschweige denn an COVID-19 erkrankt sei. So schlimm könne das Virus doch gar nicht sein.

Das ist also ihre Erfahrung mit dem Coronavirus. Meine Erfahrung sieht anders aus. Und von dieser habe ich meiner Bekannten erzählt. Hinterher meinte sie – sichtlich erschüttert – zu mir, obwohl sie hin und wieder mal Ähnliches in der Presse gelesen habe, so richtig habe sie es sich nicht vorstellen können. Es müsse noch viel mehr darüber berichtet werden. Und genau das tue ich jetzt ….

Stockholm im Frühjahr 2020

Nun musst du wissen, in meiner Erzählung ging es gar nicht um mich, sondern um meinen Mann. Mein Mann ist Arzt. Er arbeitet auf einer Intensivstation in Stockholm.

Du erinnerst dich vielleicht. Stockholm hatte in der ersten Welle mit hohen Infektionszahlen zu kämpfen. Die Krankenhäuser wurden buchstäblich von der Pandemie überrollt und mein Mann stand mittendrin.

Ich habe versucht, meinen Mann zu einem Interview zu überreden. Ein Bericht aus erster Hand wäre natürlich besser, als wenn ich darüber berichte. Jeder, der meinen Mann kennt, wird vermutlich nun schmunzeln, denn es ist nicht seine Art, über sich und seine Erfahrungen zu sprechen.

Ich als Angehörige habe dennoch viel mehr vom Coronavirus mitbekommen als viele andere, darum erzähle ich dir das, was ich auch schon meiner Bekannten erzählt habe ….

Es war im März 2020, die Corona-Fallzahlen stiegen …. In Stockholm stiegen sie besonders schnell. Mit den Fallzahlen stiegen auch die Krankenhauseinweisungen. Es war absehbar, dass die Kapazitäten an Personal, Material und Betten nicht ausreichen werden.

Arbeiten nach Notstandsplänen

In der Region Stockholm begann man nach Notstandsplänen zu arbeiten. Für das Personal bedeutete dies, dass sie Stockholm nicht mehr verlassen durften, um jederzeit bei Engpässen einrücken zu können. Die Dienstpläne wurden auf ein Zweischicht-System umgestellt und alle Urlaube wurden gestrichen. Für meinen Mann bedeutete dies konkret, dass er seine Kinder und mich nicht mehr treffen konnte, denn wir – seine Familie – waren zu diesem Zeitpunkt nicht in Stockholm sondern in Berlin.

Mangel an Material und Schutzausrüstung

Besonders in der Anfangsphase kam es zu Materialengpässen. Schutzkleidung und vor allem Atemschutzmasken waren Mangelware. In dieser Situation stattete das schwedische Militär die Mitarbeiter der Intensivstationen mit Gasmasken aus, die personalisiert wurden. (Plastik)Schutzkleidung wurde teilweise durch freiwillige Helfer genäht und zugeschnitten. Es wurden alte Beatmungsgeräte aus den 80er und 90er Jahren reaktiviert, um die schwerkranken Patienten versorgen zu können. Es zeigte sich schon früh ein sehr hoher Verbrauch an Narkosemitteln, so dass auch hier eine Knappheit befürchtet wurde.

Die Arbeit mit der Gasmaske

Ich fragte meinen Mann, wie es sich anfühle, mit einer Gasmaske intensivmedizinische Eingriffe wie zum Beispiel Intubationen, Legen von zentralen Verweilkathetern oder Tracheotomien durchzuführen. Mir persönlich fällt es ja schon schwer, mit einer FFP2-Maske zu arbeiten. Er sagte, es sei nicht einfach, aber man gewöhne sich mit der Zeit daran. Die eingeschränkte Sicht, das erschwerte Atmen, das Schwitzen und die schmerzhaften Druckstellen beeinträchtigen aber das Arbeiten beträchtlich.

Der Ansturm auf die Intensivstationen

Alle geplanten Eingriffe im Krankenhaus sowie alle ambulanten Sprechstunden mussten in Stockholm abgesagt werden, um Betten- und Personalkapazitäten zu schaffen. Der Strom der Covid-19-Patienten schwoll immer weiter an, so dass im Prinzip jede Woche eine neue Covid-Station in dem Krankenhaus meines Mannes eröffnet wurde. In der Intensivmedizin wurden ein bis zwei Patienten pro Tag neu aufgenommen, weil ihre Lunge versagte. Das Problem war (bzw. ist es immer noch), dass die Behandlung eines Lungenversagens bei dieser Erkrankung zwei bis drei Wochen in Anspruch nimmt. Du kannst dir also vorstellen, dass die Intensivkapazitäten immer weiter gesteigert werden mussten. 

In der Hochzeit der Pandemie befanden sich im Krankenhaus meines Mannes 70 Patienten auf den Intensivstationen, bei einer Intensivbettenzahl von normalerweise 18 Betten. Das war natürlich eine sehr große Herausforderung für ärztliches und pflegerisches Personal. Personen, die normalerweise nicht intensivmedizinisch tätig sind, mussten jetzt in Schnellkursen ausgebildet werden und mithelfen.

Die Angst und Unsicherheit

Mein Mann berichtete natürlich von einer hohen Arbeitsbelastung und den schon erwähnten Problemen durch das stundenlange Tragen und Arbeiten mit einer Gasmaske, doch das Schlimmste für ihn war die Unsicherheit und die Angst. Man hatte es mit einem neuartigen Virus zu tun und niemand wusste in dieser Situation, was dieses Virus mit dem Körper noch alles anstellen konnte. Man sah zunächst die vielen schwerkranken Patienten, aber die Langzeitfolgen von COVID-19 konnte man damals schwer einschätzen. Ein großer Teil der Intensivpatienten waren Männer zwischen 40 und 60 Jahren, oft ohne relevante Vorerkrankungen. Viele Mitarbeiter konnten sich mit ihnen identifizieren. So auch mein Mann.

Mein Schlüsselerlebnis

Einige Kollegen meines Mannes erkrankten an COVID-19 und landeten auf der Intensivstation. Ich werde nie den Anruf meines Mannes vergessen. Es war Anfang April. Er rief an, übermüdet und traurig. Er sagte: „Nicole, ich habe Angst meine Kinder nie wieder zu sehen“. Ein Satz, der mir nicht aus dem Kopf gehen wollte und mir viele schlaflose Nächte gebracht hat. Damals wusste niemand, wie sich die Pandemie weiterentwickeln wird.

Das neue Krankheitsbild

Mein Mann erzählte mir schon damals, dass COVID-19 mit keiner anderen Erkrankung vergleichbar sei, die er kenne. Nicht nur das Lungenversagen stelle sich völlig anders dar als bei anderen Virusentzündungen der Lunge. Auch die Beteiligung vieler anderer Organsysteme und dabei vor allem die Aktivierung des Gerinnungssystems sei völlig neu. Die Ärzteschaft habe in kurzer Zeit sehr viel über diese Viruserkrankung gelernt, Therapien seien probiert und wieder verworfen worden, aber ein echter Durchbruch sei damals (und auch heute) nicht gelungen. 20%-30% der beatmeten Patienten auf Intensivstationen verstarben. Dazu kamen viele Patienten, die aufgrund ihrer Vorerkrankungen nicht (mehr) intensivmedizinisch behandelt wurden.

Mein Mann betonte immer wieder, dass wir uns alle vor Augen halten müssen, dass diese Erkrankung gefährlich und tödlich sei und das – so die Erfahrungen aus Stockholm – sicher nicht nur für alte und kranke Menschen.

Der einsame Tod

In dieser Zeit sprachen wir auch häufiger über den Tod. Mein Mann erzählte davon, dass Patienten besonders unschön sterben, nicht weil es schmerzhaft ist, sondern weil es einsam ist. In Stockholm herrschte seit Beginn der Pandemie Besuchsverbot für die Krankenhäuser, d.h. der Krankheitsverlauf der Patienten wurde den Angehörigen in einem täglichen Telefonat übermittelt. Wenn es dann absehbar war, dass der Patient die Erkrankung nicht überleben würde, durften die nächsten Angehörigen dem Sterbenden einen Besuch abstatten. Das hat vielfach zu der für alle Beteiligten äußerst belastenden Situation geführt, dass der geliebte Mensch möglicherweise noch gehend das Krankenhaus betreten hat und man drei Wochen später ans Sterbebett gerufen wurde, ohne seinen Angehörigen zwischendurch gesehen, begleitet und getröstet zu haben. Viele der Patienten sind nach drei Wochen Intensivtherapie kaum wiederzuerkennen. Mein Mann berichtete von herzzerreißenden Szenen, die an ihm selber und dem übrigen Personal nicht spurlos vorübergegangen sind.

Unser Familienleben in der Pandemie

Auch unser Familienleben änderte sich fundamental. Mein Mann konnte durch seinen Einsatz in Stockholm drei Monte nicht zu uns nach Berlin kommen. Er war fast täglich über 12 Stunden im Einsatz und hatte kaum freie Tage zur Erholung und Verarbeitung des Erlebten. Die Kinder und ich mussten in der Zeit des Lockdowns alleine in Berlin zurechtkommen. Das ist uns allen sehr schwergefallen, denn die Schulschließungen haben auch unsere Kinder sehr belastet. Für mich war es ein Spagat zwischen meiner Arbeit in der Kinderarztpraxis und Homeschooling zuhause.

Mein persönliches Fazit aus dieser Zeit

Aufgrund dieser Erfahrungen sehe ich vielleicht das Coronavirus mit anderen Augen als du. Ich versuche auf diesem Weg zu vermitteln, wie gefährlich es ist, SARS-CoV-2 zu unterschätzen. Ich habe Angst vor dem Virus und möchte definitiv nicht an COVID-19 erkranken. Daher halte ich mich an die empfohlenen Regeln. Ich möchte mich und natürlich auch andere vor dem tückischen Virus schützen. Zudem habe ich große Sorge, dass mein Mann wieder unter solchen katastrophalen Bedingungen arbeiten muss, denn solche Erfahrungen gehen nicht spurlos an ihm vorbei. Sie belasten natürlich nicht nur meinen Mann, sondern das gesamte Gesundheitspersonal, welches schwerkranke COVID-19 Patienten versorgt. Viele von ihnen empfinden es – verständlicherweise – als Hohn, wie unbeschwert und verantwortungslos sich immer noch einige Menschen im Umgang mit dem Coronavirus verhalten. 

Sie appellieren an die Vernunft der Mitbürger und bitten um Mithilfe beim Einhalten der geltenden Hygiene-Maßnahmen. Auch die Kollegen im Krankenhaus meines Mannes tun dieses unermüdlich. Sie tun das über Pressemitteilungen, Fernsehinterviews und Berichte in den sozialen Medien. Auch wenn du kein Schwedisch sprichst, lohnt es sich, dir diesen kurzen Clip aus dem Krankenhaus meines Mannes anzuschauen (hier klicken!). Es sind Bilder die berühren – auch ohne Worte. Unser Gesundheitssystem wurde (noch) nicht so strapaziert, lasst es nicht so weit kommen.

Ich verstehe, dass es vielen so geht wie meiner Bekannten. Es ist schwierig, die dynamische Entwicklungen auf dem Gebiet der Wissenschaft richtig einzuordnen. Insbesondere dann, wenn man keine persönlichen Erfahrungen mit dem Virus hat oder nur Personen kennt, die zwar eine Coronavirus-Infektion hatten, aber – glücklicherweise – nur leichte Symptome entwickelt haben.

Wir müssen uns immer wieder vor Augen führen, dass wir in Deutschland bisher so gut dastehen, weil frühzeitig drastische Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie eingeleitet worden sind und – das dürfen wir auch nicht vergessen – weil wir einfach ein bisschen Glück hatten. Glück, dass wir einige Wochen hinter anderen Ländern im Infektionsgeschehen lagen und aus den Erfahrungen der Anderen lernen konnten. Mit den strengen Maßnahmen im Frühjahr konnte verhindert werden, dass unser Gesundheitssystem überlastet wurde. Es wird sich nun zeigen, was die aktuellen Einschränkungen bewirken. Ich möchte keine schlechte Stimmung verbreiten, aber ich kann dir verraten, dass ich besorgt bin. Sehr besorgt sogar! Im Gegensatz zum Frühjahr steht uns jetzt ein langer Winter bevor.

Nun ist jeder einzelne von uns gefordert. Was zu tun ist, dass wissen wir mittlerweile alle sehr gut ….

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