Digitale Arztbesuche – ein praktischer Leitfaden für die Kinder- und Jugendmedizin
Hinweis
Diesen Text habe ich aus persönlichen Gründen für meine Arbeit in Schweden erstellt und aus dem Schwedischen ins Deutsche übersetzt. Er bezieht sich auf die Bedingungen in Schweden, speziell auf mein Arbeitsumfeld in einem ambulanten kinder- und jugendmedizinischen Versorgungszentrum (Barn- och ungdomsmottagning, BUMM), das sich von den deutschen Strukturen unterscheidet. Die Vorschläge lassen sich daher nicht 1:1 auf deutsche Kinderarztpraxen übertragen – können aber durchaus spannende Impulse bieten. Deshalb habe ich mich entschieden, den Text zu übersetzen und hier zu teilen.
Einleitung
Digitale Arztbesuche sind in vielen Bereichen der medizinischen Versorgung mittlerweile selbstverständlich. In den schwedischen ambulanten kinder- und jugendmedizinischen Versorgungszentren (Barn- och ungdomsmottagning, BUMM) herrscht jedoch noch oft Unsicherheit: Wann sind digitale Besuche sinnvoll? Was wird dafür benötigt? Und wie lassen sie sich effektiv in den Alltag integrieren?
Dieser Text bietet eine praxisnahe Unterstützung für alle, die in solchen Versorgungszentren arbeiten.
Warum auf digitale Arztbesuche setzen?
Auch in einem ambulanten Kinder- und Jugendmedizinischen Versorgungszentrum (BUMM) können digitale Arztbesuche dabei helfen, Patientenströme besser zu steuern, Wartezeiten zu verkürzen, Terminlücken zu füllen und die Versorgung sowohl für das medizinische Personal als auch für Kinder und Eltern flexibler und zugänglicher zu gestalten. Dies gilt selbst unter Berücksichtigung der in Stockholm geltenden Einschränkungen, wie der geringeren Vergütung digitaler Sprechstunden und der Obergrenzen für das Patientenvolumen pro Arzt (45 Patienten pro Woche für eine Vollzeitstelle).
Eine klare Strategie ist unverzichtbar
Um digitale Kinderarztbesuche sicher und effektiv – sowohl medizinisch als auch wirtschaftlich – gestalten zu können, reicht es nicht aus, lediglich die technische Infrastruktur bereitzustellen. Es bedarf einer klaren Strategie für die Umsetzung der Telemedizin in jeder einzelnen Einrichtung.
Es muss eine verantwortliche Person für die Einführung benannt werden, die spezifische Richtlinien für den eigenen Arbeitsplatz entwickelt. Ein konkreter Plan sollte dabei die folgenden Punkte beinhalten:
Welche Berufsgruppen und Mitarbeitenden bieten digitale Besuche an?
Für welche Patientengruppen ist eine digitale Sprechstunde geeignet?
In welchen Situationen ist ein digitaler Patientenkontakt sinnvoll?
Wie werden digitale Besuche in den klinischen Alltag integriert?
Individuelle Analyse der Rahmenbedingungen
Jede Einrichtung bringt spezifische Voraussetzungen mit sich, die für die erfolgreiche Implementierung digitaler Arztbesuche berücksichtigt werden sollten:
Personalausstattung: Teamgröße, Krankheitstage, persönliche Erfahrungen und Interesse an Telemedizin.
Patientenklientel: Sozialer Hintergrund, Sprachbarrieren, Bereitschaft für digitale Angebote.
Lage der Praxis: Zentral oder dezentral, Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr.
Diese Aspekte sollten sorgfältig analysiert werden, um den konkreten Nutzen digitaler Besuche für die jeweilige Praxis zu bewerten.
Unterstützung und Schulung des Personals
Ärzte und andere Mitarbeitende benötigen von Anfang an klare Unterstützung sowie kontinuierliche Schulungen. Es müssen Richtlinien für den sicheren, effektiven und patientengerechten Einsatz der digitalen Werkzeuge vorhanden sein.
Wichtig ist außerdem eine offene Kommunikation im Team, damit Erfahrungen geteilt und Prozesse gemeinsam weiterentwickelt werden können.
Die Technik ist heutzutage selten ein Hindernis – die meisten ambulanten kinder- und jugendmedizinischen Versorgungszentren (BUMM) verfügen bereits über die notwendigen Systeme. Entscheidend ist vielmehr: Sind die organisatorischen Voraussetzungen für eine reibungslose und nachhaltige Umsetzung gegeben?
Führung durch die Praxisleitung
Damit digitale Besuche ein fester Bestandteil des Praxisalltags werden können, ist ein aktives Engagement der Praxisleitung unerlässlich. Nur wenn das gesamte Team unter einheitlichen Bedingungen zusammenarbeitet und gemeinsam auf dasselbe Ziel hinarbeitet, kann eine hohe und konsistente Behandlungsqualität gewährleistet werden – unabhängig vom Engagement einzelner Mitarbeiter.
Von der Strategie zur Integration in den Alltag
Nun gilt es, die Strategie in konkrete Schritte umzusetzen. Was ist nötig, damit digitale Kinderarztbesuche ein selbstverständlicher Teil des Praxisalltags werden?
Mit den folgenden Voraussetzungen:
funktionierende Technik
geschultes Personal
klares Interesse sowohl vom Praxisteam als auch von den Eltern
ist der nächste entscheidende Schritt eine strukturierte Analyse der Patientengruppen.
Dabei sollte man erkennen:
✓ In welchen Situationen digitale Arztbesuche echten Mehrwert bieten
✓ Bei welchen Fällen sie den Alltag für Familien und Praxisteam tatsächlich erleichtern
✓ In welchen Szenarien sie die Versorgung verbessern können, ohne die Behandlungsqualität zu gefährden
Stichwort: Echter Nutzen – digitale Besuche sollen nicht nur technisch möglich, sondern auch medizinisch sinnvoll sein.
Beispiele aus der kinderärztlichen Praxis
In ambulanten kinder- und jugendärztlichen Versorgungszentren (BUMM) betreuen wir oft Kinder mit komplexen Erkrankungen. Körperliche Untersuchungen sowie die Messung von Gewicht und Größe sind wesentliche Bestandteile und fließen in unsere ärztliche Beurteilung ein. Das bedeutet, dass digitale Besuche die meisten physischen Termine nicht ersetzen können – aber sie bieten die Möglichkeit, bestimmte Abläufe und Phasen der Behandlung effizienter zu gestalten.
Hier einige Situationen, in denen digitale Arztbesuche als sinnvolle Ergänzung – und manchmal sogar als erste Option – genutzt werden können:
Kurzfristige Absagen wegen Krankheit
Wenn ein Kind oder ein Elternteil kurz vor einem Termin erkrankt und dieser daher abgesagt wird, entsteht oft kurzfristig eine schwer zu füllende Lücke im Terminkalender. Manchmal wird dann kurzfristig ein anderer Patient eingeschoben – was jedoch nicht immer optimal ist.
Ist sowohl die Familie als auch der Arzt einverstanden, kann das geplante Gespräch trotzdem digital stattfinden, während das kranke Kind/Elternteil zuhause bleibt. Selbst wenn nicht alles online abschließend geklärt werden kann, lässt sich doch vieles erledigen:
Erhebung der Anamnese
Anordnung eventuell notwendiger Zusatzuntersuchungen
Anpassung laufender Behandlungen (z. B. bei Infektasthma oder Verstopfung)
Ausstellung von Überweisungen (z. B. an Diätassistenten, Physiotherapeuten, Psychologen)
Das entlastet sowohl die Eltern als auch das Praxispersonal und ermöglicht eine schnellere Patientenversorgung. Das folgende (physische) Treffen kann oft kürzer und gezielter gestaltet werden.
Verlaufskontrolle nach neuer Medikamenteneinstellung
Nach dem Start einer Therapie ist die Verlaufskontrolle entscheidend, um sowohl die Wirkung als auch mögliche Nebenwirkungen zu beurteilen. Oft bitten wir die Eltern nach ausführlicher Information, sich bei Auftauchen der besprochenen „Probleme“ zu melden – aber in der Realität geschieht das nicht immer. Dadurch können ineffektive Behandlungen unbemerkt über Monate fortgeführt werden.
Eine Möglichkeit wäre ein Telefonkontakt – doch dieser ist oft schlecht planbar und ineffizient. Häufig wird kein fester Termin vereinbart, sondern die der Arzt ruft an, wenn es passt. Oft muss man mehrere Versuche starten, um mit der Familie in Kontakt zu treten, was zeitaufwendig ist. Besser ist es, bereits bei der Verordnung ein digitales Verlaufsgespräch in ein paar Wochen fest einzuplanen. So wissen sowohl der Arzt als auch die Eltern genau, wann die Kontrolle stattfindet.
Ein kurzer Fragebogen im Vorfeld (siehe Anhang) kann das Gespräch zusätzlich strukturieren und die Zeit kann effizient für eine gezielte Anpassung der Therapie genutzt werden.
Ergänzende Informationen für Atteste
Manche Atteste erfordern eine Nachbefragung der Eltern und das Einholen weiterer Angaben. Ein digitales Gespräch kann dabei helfen, die nötigen Informationen zu sammeln, bevor das Attest endgültig ausgestellt wird. Dieses ist effizient für beide Seiten.
Abstimmungen bei langen Wartelisten
Gerade bei Zeiten mit einem hohen Eingang von Überweisungen und hoher Auslastung wächst die Warteliste (Väntelista) der Praxis schnell. Neupatienten werden häufig bevorzugt, während Kontrolltermine hinausgeschoben werden.
Digitale Sprechstunden können hier Entlastung schaffen:
A) Kurze digitale Verlaufskontrollen zeigen, ob weitere Besuche vor Ort überhaupt noch notwendig sind.
B) Einige Patienten können „abgeschlossen“ und wieder in die hausärztliche Betreuung (Vårdcentral/Hausarztpraxis) überführt werden, ohne ein weiteres Treffen vor Ort.
C) Andere Patienten, bei denen noch eine baldige ärztliche Vorstellung angeraten ist, lassen sich gezielt für einen baldigen Wiedervorstellungstermin priorisieren.
So verbessern wir die Patientensicherheit und gleichzeitig die Verfügbarkeit von Terminen – ohne die Versorgungsqualität zu gefährden.
Digitale Arztbesuche als Werkzeug – nicht als Ersatz
Digitale Kinderarztbesuche werden die Konsultationen „vor Ort“ nicht ersetzen. Richtig eingesetzt sind sie jedoch ein wertvolles Instrument, um die Versorgungssicherheit, Erreichbarkeit und Zufriedenheit sowohl der Patienten als auch der Praxisteams zu erhöhen.
Motivation für digitale Verlaufskontrollen – Voraussetzungen für Akzeptanz
Wie bereits erwähnt, funktionieren digitale Arztbesuche am besten, wenn sowohl das Praxisteam als auch die Eltern positiv eingestellt sind. Für eine erfolgreiche Umsetzung lohnt es sich, die Einstellung frühzeitig zu erfragen.
Eine einfache Frage reicht: „Könnten Sie sich vorstellen, dass eine Verlaufskontrolle auch digital stattfinden könnte?“
Das gibt den Eltern die Möglichkeit, bewusst mitzuentscheiden und fördert eine hohe Akzeptanz für digitale Angebote.
Wenn kein Interesse besteht:
Bei einem „Nein“ sollte kein Überreden stattfinden. Stattdessen kann eine mündliche oder – falls gewünscht – schriftliche Information mitgegeben werden (siehe Anhang), sodass Eltern ihre Entscheidung in Ruhe überdenken können und sich vielleicht beim nächsten Mal für einen digitalen Kontakt entscheiden.
Wenn Interesse besteht:
Dann sollte eine klare, unkomplizierte Erklärung folgen, wie das digitale Gespräch ablaufen wird. Auch sollte erwähnt werden, dass dieselben Bedingungen wie bei einem physischen Termin gelten (z. B. Gebühren bei Nichterscheinen). Eine kurze schriftliche Bestätigung oder Checkliste hilft, die Erwartungen zu klären.
Checkliste: Praktische Voraussetzungen für ein erfolgreiches digitales Arztgespräch
Das Kind und die Eltern sollten sich in einer ruhigen Umgebung aufhalten – nicht im Auto, nicht im Restaurant, nicht während anderer Tätigkeiten.
Eventuelle Vorbereitungen (Fragebögen, ACT, PEF-Protokolle, Symptomtagebücher) sollten erledigt und griffbereit sein.
Diejenige Bezugsperson, die das Kind am besten kennt, sollte am Gespräch teilnehmen. Ideal ist, wenn beide Sorgeberechtigten anwesend sind – besonders bei Therapiebesprechungen.
Hinweis: Beide Elternteile können die schriftliche Zusammenfassung der Konsultation in der Patientenakte einsehen.
Erinnerung: Aktualisierte Behandlungspläne sind im System hinterlegt.
Besprechen, was die nächsten Schritte sind:
Wird ein Folgetermin vereinbart?
Wird die Betreuung beendet und eine Überweisung an den Hausarzt organisiert?
Sind neue Rezepte ausgestellt und abrufbar?
Abschluss
Digitale Arztbesuche erfordern mehr als nur die richtige Technik – sie brauchen eine klar definierte Rolle in der Patientenversorgung. Mit einer durchdachten Strategie, angepassten Abläufen und konkreten Beispielen können sie zu einem festen und wertvollen Bestandteil der Kinderarztpraxis werden.