Die Videosprechstunde – Chancen und Maßnahmen zur Verbesserung
Es ist nun knapp fünf Jahre her, dass ich meinen ersten Artikel über den digitalen Patientenkontakt geschrieben habe (Link). Damals arbeitete ich als kassenärztlich tätige Kinderärztin in Berlin und war von den Möglichkeiten der Videosprechstunde hellauf begeistert. Ich sah großes Potenzial: Kinder mit leichten Beschwerden könnten unkompliziert digital betreut werden, und ich stellte mir eine zeiteffiziente Möglichkeit vor, medizinische Anliegen schnell und flexibel zu klären.
Doch die Realität holte mich schnell ein, und die Herausforderungen der Telemedizin wurden mir bewusst. Ich hatte häufig das Gefühl, dass viele Eltern – selbst wenn es sich aus pädiatrischer Sicht um „banale“ medizinische Anliegen handelte – der digitalen Konsultation nicht ganz trauten und lieber „zur Sicherheit“ noch einmal in die Praxis kamen. Zudem gab es zahlreiche technische Herausforderungen, die gelöst werden mussten. Rückblickend kann ich sagen: Auch wenn ich persönlich großes Potenzial in der Videosprechstunde gesehen habe, waren die Voraussetzungen damals noch nicht optimal – und viele Eltern schlichtweg nicht bereit dafür. Das zeigte sich auch daran, dass nach meinem Weggang aus der Praxis das Interesse des Teams, die Videosprechstunde weiter anzubieten, gering war. Sie gibt es nicht mehr. Zusammenfassend war es eine wertvolle Erfahrung, aber die Zeit und Energie, die ich investiert habe, haben sich nicht wirklich ausgezahlt.
Mittlerweile arbeite ich in Schweden – einem Land, das als Vorreiter im Bereich eHealth gilt. Tatsächlich sind digitale Konsultationen hier weit verbreitet, insbesondere in der Primärversorgung. Kommerzielle Anbieter für digitale Arztbesuche spielen ebenfalls eine große Rolle, stehen jedoch – ähnlich wie in Deutschland – immer wieder in der Kritik. Solche Angebote werden häufig für leichte Beschwerden genutzt, vor allem von jüngeren Menschen. Es ist jedoch fraglich, ob diese Patientengruppe einen Arzt aufgesucht hätte, wenn der digitale Zugang nicht so unkompliziert wäre – ein Faktor, der letztlich zu höheren Kosten für das Gesundheitssystem führt.
In meinem damaligen Artikel hatte ich mich kritisch gegenüber diesem kommerziellen Modell der Videosprechstunde geäußert. Insbesondere mit Blick auf die kassenärztlich tätigen Hausärzte halte ich es für extrem problematisch, wenn Patienten mit „Schnupfen, Husten und Heiserkeit“ digitale Anbieter konsultieren, während sich die niedergelassenen Praxen um die wirklich schweren und chronischen Fälle kümmern müssen. Viele Hausärzte, sowohl in der Pädiatrie als auch in der Erwachsenenmedizin, sind auf die umgangssprachlich als „Verdünnerscheine“ bekannten Fälle angewiesen, um ihre Praxis wirtschaftlich zu betreiben. Ganz zu schweigen von den abrechnungstechnischen Bedenken – etwa der wiederholten Abrechnung von Fallpauschalen durch verschiedene Anbieter, was zu einer unnötigen Belastung der gesetzlichen Krankenkassen führt. Obwohl ich prinzipiell ein Befürworter der Videosprechstunde bin, unterstütze ich die Entwicklung dieser Art von Telemedizin nicht.
Wenn ich im Folgenden über Videosprechstunden spreche, beziehe ich mich ausdrücklich nicht auf dieses kommerzielle Modell der Telemedizin. Stattdessen möchte ich auf die Nutzung der Videosprechstunde in „spezialisierten Sprechstunden“ eingehen – so, wie ich sie hier in Schweden anwende.
Ich arbeite in einem pädiatrischen Zentrum (BUMM), das sich um Kinder mit komplexen gesundheitlichen Problemen kümmert. Ich würde es als eine Art „Spezialambulanz“ bezeichnen, die wir so in Deutschland nicht kennen. Hier geht es nicht um Infekte, Impfungen oder Vorsorgeuntersuchungen, sondern um Diagnostik und Verlaufskontrollen bei unklaren Fällen und/oder chronischen Erkrankungen – etwa bei Zöliakie, chronischen Bauchschmerzen/Kopfschmerzen, Migräne oder Gedeihstörungen. Es gibt eine klare Übersicht über Krankheitsbilder inklusive Schweregrad und Symptome, die in ein solches spezialisiertes Zentrum überwiesen werden. Eine Überweisung ist zwingend erforderlich (Ausnahme: Kinder unter sechs Monaten) und wird unter anderem durch den „Familien- bzw. Distriktarzt“, den Schularzt oder eine Krankenschwester aus den allgemeinen Vorsorgezentren (BVC) ausgestellt.
Probleme der Videosprechstunde
Und genau hier stehe ich wieder an dem Punkt, an dem ich vor fünf Jahren war. Ich biete die Videosprechstunde zwar routinemäßig an – aber ehrlich gesagt, mache ich es ungern. Ich bevorzuge den persönlichen Arzt-Patienten-Kontakt. Auch meine Kollegen scheinen wenig Interesse an der Videosprechstunde zu haben. Die meisten nutzen sie nur in ausgewählten Einzelfällen und würden ebenfalls immer den direkten Kontakt bevorzugen.
Warum ist das so? Warum wird die Telemedizin im spezialisierten Bereich so zögerlich angenommen, während sie in der Primärversorgung längst ein fester Bestandteil der Gesundheitsversorgung ist und kommerzielle Telemedizinunternehmen darauf schwören?
Ich denke, es gibt mehrere Faktoren:
Fehlende standardisierte Verfahren:
Jeder macht seine eigenen Erfahrungen, aber es gibt keine festen Empfehlungen oder Leitlinien, an denen wir uns orientieren können. Niemand nimmt uns an die Hand und sagt zum Beispiel: „Lasst uns überlegen, in welchen Situationen eine digitale Sprechstunde in deinem Fachgebiet wirklich sinnvoll ist. Hier sind Tipps, wie du sie effektiver gestalten kannst. Diese Fehler solltest du vermeiden.“ Dadurch bleibt viel Unsicherheit bestehen, und die Umsetzung ist jedem einzelnen Arzt überlassen und daher individuell sehr unterschiedlich.
Mangelnde Vorbereitung der Patienten und Eltern:
Selbst wenn man Patienten und Eltern klare Empfehlungen gibt – wie eine ruhige Umgebung, eine stabile Internetverbindung oder eine gute Beleuchtung – heißt das noch lange nicht, dass diese eingehalten werden. Ich habe Videosprechstunden erlebt, die in Restaurants, auf Autofahrten, während Spaziergängen oder sogar an Arbeitsplätzen stattfanden. Oft liegt der Fokus der Eltern dann nicht vollständig auf dem Gespräch, und es kann passieren, dass entscheidende Punkte untergehen.
Probleme bei digitalen Verlaufskontrollen:
Häufig dienen Videosprechstunden der Verlaufskontrolle, bei der Eltern Protokolle (wie z.B. bei chronischen Bauchschmerzen oder Kopfschmerzen) führen oder Werte (z.B. PEF) dokumentieren sollen. Doch oft fehlen diese Unterlagen während des Gesprächs. In der Praxis können wir den Patienten direkt befragen, beobachten und untersuchen. Bei digitalen Verlaufskontrollen hingegen sind meist nur die Eltern anwesend – oft ohne aktuelle Informationen, weil sie ihr Kind (sofern altersgerecht möglich) vorab nicht gezielt befragt haben. Ohne diese Details und den direkten Kontakt ist eine fundierte Einschätzung deutlich schwieriger.
Technische Schwierigkeiten:
Auch wenn die Technologie stetig besser wird, bleiben technische Probleme weiterhin eine Herausforderung. Verbindungsabbrüche, schlechte Ton- oder Bildqualität oder inkompatible Softwarelösungen führen immer wieder zu Frustration – sowohl auf Seiten der Ärzte als auch der Patienten.
Ungünstige Terminplanung:
Oft werden Videosprechstunden zwischen die reguläre Sprechstunde und anderen Termine „gequetscht“ werden. Man meint, dadurch jede Arbeitsminute effektiv ausnutzen zu können – oft ist das Gegenteil der Fall. Durch das kürzere Zeitfenster bleibt manchmal weniger Zeit als geplant, und man hält sich – bewusst oder unbewusst – kürzer, als es eigentlich sinnvoll wäre.
Vergütung
Zusätzlich spielt die Vergütungsstruktur eine Rolle. In den spezialisierten pädiatrischen Sprechstunden in der Region Stockholm werden zum Beispiel Videosprechstunden schlechter vergütet als komplexe Konsultationen vor Ort. Das wirtschaftliche Interesse der Arbeitgeber liegt daher nicht in der Förderung der Telemedizin.
Warum kehre ich immer wieder zur Telemedizin zurück?
Ich bin überzeugt, dass eine Stärkung der Telemedizin sowohl für Ärzte als auch für Patienten auch im spezialisierten Sektor erhebliche Vorteile mit sich bringen kann. Wenn Videosprechstunden gezielt für Anliegen eingesetzt werden, bei denen sie sinnvoll sind, sehe ich keinen Grund, warum Eltern und Kinder den Aufwand einer Anreise auf sich nehmen sollten, nur um ein Gespräch zu führen. Besonders in Zeiten des Personalmangels sind flexible Lösungen gefragt – beispielsweise die Möglichkeit, Verlaufskontrollen oder Routinegespräche per Videosprechstunde durchzuführen. Dies schafft nicht nur mehr Flexibilität für Ärzte, sondern entlastet auch die Praxen und spart Zeit für alle Beteiligten.
Allerdings hat die Videosprechstunde meiner Meinung nach nur dann wirklich Potenzial, wenn sie nicht „nebenbei“ stattfindet. Ohne klare Strukturen, eine bessere Vorbereitung sowohl seitens der Ärzte als auch der Eltern und Patienten sowie eine technologische Optimierung bleibt sie eine halbherzige Lösung, die nicht wirklich zufriedenstellend ist. Es braucht gezielte Anpassungen und ein klares Konzept, um das volle Potenzial der Telemedizin auszuschöpfen.