Zum Kinderarzt per Video – nein danke?
Von der Videosprechstunde hatte ich mir viel versprochen. Wer geht schon gerne mit seinem kranken Kind zur Kinderärztin/zum Kinderarzt, um zum Beispiel „nur eine Krankschreibung“ abzuholen? Und welches Kind sitzt dafür gerne mit Durchfall, Erbrechen, Fieber, Husten oder allgemeinem Unwohlsein in einem überfüllten Wartezimmer, wenn es auch zuhause auf dem Sofa liegen könnte? Keines, oder? Das dachte ich zumindest!
- Anfahrtswege sparen
- im „Wohnzimmer“ statt im Wartezimmer warten
- Ansteckungsrisiko vermeiden
- Möglichkeit der kurzfristigen Terminvereinbarung
Doch meine ersten Erfahrungen mit der Videosprechstunde im Praxisalltag sahen anders aus …
Persönlicher Arzt-Patienten-Kontakt ist bedeutungsvoll
Eine digitale Arztkonsultation ist nicht dasselbe, wie zum Beispiel online eine Reise zu buchen oder Bankgeschäfte zu erledigen. Eine Ärztin/ein Arzt wird von den meisten Patientinnen/Patienten lieber persönlich aufgesucht. Hierfür werden Umstände – wie zum Beispiel langes Warten im möglicherweise überfüllten Wartezimmer – eher akzeptiert als bei anderen „Alltagsaktivitäten“. Für viele medizinische Anliegen ist ein persönlicher Arzt-Patienten-Kontakt wichtig und kann nicht durch eine Videosprechstunde ersetzt werden, insbesondere dann nicht, wenn eine körperliche Untersuchung notwendig ist.
Die Videosprechstunde: ein komplementäres medizinisches Angebot
Die Videosprechstunde sollte daher als ein komplementäres medizinisches Angebot gesehen werden und nicht als Alternative zum Arztbesuch. Eine Möglichkeit, welche dir in bestimmten Situationen von großem Nutzen sein kann. Du musst nur wissen, wann und für welche Anliegen sie für dich und dein Kind Sinn ergeben könnte.
Laß es mich im Folgenden näher erklären. Ich möchte ehrlich mit dir sein und dir die Grenzen und Probleme der Telemedizin nicht verschweigen. Daher lass mich zu Beginn noch kurz etwas über meine anfänglichen Erfahrungen mit der Videosprechstunde erzählen.
Die zögerliche Ankunft der Videosprechstunde in Deutschland
Wie die meisten meiner ärztlichen Kolleginnen/Kollegen habe auch ich im Frühjahr, in der Hochzeit der Corona-Pandemie, meinen Patientinnen/Patienten Online-Sprechstunden angeboten. Viele meiner Kolleginnen/Kollegen haben im Sommer, nach dem Abflauen des Infektionsgeschehens, dieses Angebot aber auch wieder beendet. Die Vorteile einer digitalen Sprechstunde haben sie nicht überzeugt!
Ich habe weitergemacht, obwohl ich zugeben muss, dass meine anfängliche Begeisterung für die Telemedizin auch nicht mehr ungetrübt ist.
Die Illusion
Ich hatte zum einen die Vorstellung, dass viele Eltern mit ihren Kindern für „kleinere“ Anliegen eine Videosprechstunde dem Weg in die Praxis vorziehen würden. Dem war nicht so. Zum anderen hatte ich mir ein effizienteres Arbeiten erhofft, indem ich zum Beispiel kurze Leerlaufzeiten – die zumindest in der Hochzeit der Pandemie mal aufgetreten sind – besser nutzen könnte. Die Realität sah anders aus!
Technische Probleme
Ich hatte immer wieder mit technischen Problemen zu kämpfen: schlechtes Bild, kein Ton, „wackelige“ Verbindung u.a. durch schlechte Internetverbindung.
So ließen sich zum Bespiel Hautausschläge oft nicht beurteilen und die Patientin/der Patient musste doch noch in die Praxis kommen. In solchen Situationen habe ich mir manchmal Fotos per E-Mail oder direkt über die Plattform des Videosprechstundenanbieters schicken lassen, aber auch diese Bilder waren teilweise qualitativ nicht besser und keine große Hilfe.
Vertrauen in die Videosprechstunde sank
Häufig musste ich sogar wegen einer schlechten Internet-Verbindung die Online-Konsultation abbrechen. Ich habe dann die Eltern und Kinder angerufen und versucht, so gut wie möglich das Anliegen per Telefon zu klären. Das war natürlich nicht immer möglich. Viel Zeit ging dadurch verloren.
Das Vertrauen der Eltern in die Videosprechstunde wurde durch solche Erfahrungen nicht gerade gestärkt, so dass einige von ihnen beim nächsten Anliegen mit ihrem Kind lieber direkt in die Praxis kommen wollten und eine Beratung per Video von vornherein ablehnten.
Problem mit der Indikationsstellung
Im Rahmen einer Videosprechstunde kann die Patientin/der Patient von der Ärztin/vom Arzt nicht in dem Umfang untersucht werden wie bei einer persönlichen Vorstellung. Das ist natürlich ein Nachteil und grenzt die Indikationen für eine Online-Konsultation deutlich ein. Es herrscht große Unsicherheit, wie eine Videosprechstunde sinnvoll eingesetzt werden kann und für welche Anliegen sie sich überhaupt eignet.
Erfahrungen aus dem Praxisalltag
So kam es bei uns in der Praxis immer wieder vor, dass Patientinnen/Patienten mit dem „falschen“ Anliegen für eine Videosprechstunde eingebucht waren, d.h. ihnen konnte auf digitalem Wege nicht geholfen werden. Sie mussten sich dann doch noch persönlich vorstellen. Diese „Doppelkontakte“ haben sowohl den Eltern und Kindern als auch unserem Praxisteam viel Zeit gekostet.
Ein weiterer Grund für unnötige „Doppelkontakte“ waren Eltern, deren „Sicherheitsbedürfnis“ durch die Fernberatung und ggf. -behandlung nicht befriedigt wurden. Sie sind nach einer digitalen Arztkonsutation noch einmal „zur Sicherheit“ für eine persönliche Vorstellung ihres KIndes in die Sprechstunde gekommen. Aus medizinischer Sicht gab es hierfür keinen Anlass, aber aus Elternsicht war es durchaus ein verständliches Handeln.
Mein Fazit aus dieser Zeit
Für Patientinnen/Patienten, die mit der digitalen Technik nicht vertraut sind, kein Interesse daran haben oder die technischen Möglichkeiten (u.a. stabile Internetverbindung) nicht haben, stellt eine Videosprechstunde keine Alternative dar. Diese Patientengruppe darf im Rahmen der Digitalisierung des Gesundheitswesens nicht vergessen werden. Jeder Mensch hat ein Recht auf eine gute Gesundheitsversorgung – unabhängig von seinen Voraussetzungen und seinen Möglichkeiten zum Zugriff auf digitale Plattformen.
Im Frühjahr habe ich schnell eingesehen, dass eine Videosprechstunde ohne eine ausführliche Information und Einführung in den Praxisalltag für das Team und die Eltern/Patientinnen/Patienten nutzlos ist. Sowohl viele Eltern als auch unser Praxisteam sahen keinen überlegenden Vorteil in einer Online-Konsultation. Entweder konnte ein medizinisches Problem mit der Videosprechstunde nicht gelöst werden (falsche Indikation) oder die Videosprechstunde war aus anderen Gründen (z.B. technische Probleme) nicht überzeugend. Zusammengefasst – eine große Entlastung war sie im Praxisalltag nicht.
Wie wird eine Videosprechstunde attraktiver?
Die Frage ist nun, was wir tun können, damit die Videosprechstunde im Praxisalltag sowohl für unser Team als auch für die Eltern und Kinder attraktiver wird?
Drei Punkte fallen mir dazu ein:
- Eltern/Patientinnen/Patienten über das Angebot einer Videosprechstunde informieren
- Eingrenzung und genaue Beschreibung der medizinischen Anliegen, für die Eltern/Patientinnen/Patienten eine Videosprechstunde bei uns in Anspruch nehmen können
- Eltern/Patientinnen/Patienten die Möglichkeit geben, eine Videosprechstunde direkt online zu buchen – ohne vorher unser Praxisteam persönlich kontaktieren zu müssen
Das bedeutet also, dass sowohl Eltern/Patientinnen/Patienten als auch das Praxisteam genaue Anweisungen brauchen, in welchen Situationen die Videosprechstunde sinnvoll eingesetzt werden kann und wie diese einfach online zu buchen ist. Folglich habe ich eine Liste von Anliegen erstellt, für die eine Videosprechstunde – meiner Meinung nach – in unserer Praxis Sinn ergeben würde. Im nächsten Absatz findest du die Liste.
Liste der Anliegen, für die eine Videosprechstunde in Betracht gezogen werden kann
- Besprechen von Befunden (Labor, Sonographie, Röntgen)
- Ausstellen von Überweisungen für das neue Quartal, wenn die Patientin/der Patient durch Ärztinnen/Ärzte anderer Fachrichtungen oder in einem Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ) (mit)betreut wird
- Verschreiben von Rezepten, wenn die Patientin/der Patient eine Dauertherapie erhält
- Verschreiben von Rezepten für z.B. Läuse- oder Wurmmittel bei Befall mit Parasiten, wenn keine weiteren Beschwerden vorliegen
- Ausstellen von „Ärztlichen Bescheinigung für den Bezug von Krankengeld bei Erkrankung eines Kindes“ oder von „Schulattesten“, wenn die medizinischen Probleme online zu beurteilen sind
- medizinische Beratung zu allgemeinen Gesundheitsfragen
- Verlaufskontrolle nach Ansetzen/Änderung einer Therapie (z.B. bei Asthma)
- Auswerten von Beschwerdetagebüchern (Bauchschmerzen/Kopfschmerzen) mit anschließender Besprechung der weiteren Diagnostik oder Therapie
Beachte: Die Ärztin/der Arzt wird sich auch im Rahmen einer Videosprechstunde einen Eindruck vom gesundheitlichen Zustand der Patientin/des Patienten machen wollen. Aus diesem Grund muss die Patientin/der Patient (also auch das Kind) während der Videosprechstunde anwesend sein.
Bietet eure Kinderärztin/euer Kinderarzt eine Videosprechstunde an?
Nun weißt du, in welchen Situationen ich als Kinder- und Jugendärztin eine Videosprechstunde für sinnvoll halte. Auch du könntest in ähnlichen Situationen darüber nachdenken, vorausgesetzt eure Kinderärztin/euer Kinderarzt bietet eine an. Erkundige dich also in der Praxis, denn manchmal bekommt man solche „Neuheiten“, wie das Angebot einer Videosprechstunde, gar nicht mit.
Im Fall, dass eine digitale Sprechstunde angeboten wird, solltest du wissen, für welche Anliegen das bei eurer Kinderärztin/eurem Kinderarzt gilt. Dieses erspart dir und deinem Kind in ausgewählten Situationen den Gang in die Praxis. Insbesondere in Zeiten der Pandemie mit den geltenden Empfehlungen zur Kontaktbeschränkung ist das ein sehr großer Vorteil.
Kommerzielle Anbieter für Videosprechstunde
Wenn eure Kinderarztpraxis zur Zeit (noch) keine Videosprechstunde anbietet, gibt es die Möglichkeit, digitale Sprechstunden bei „kommerziellen“ Videosprechstundenanbietern zu buchen. Diese Möglichkeit solltest du und dein Kind jedoch nicht „inflationär“ in Anspruch nehmen. Greift auf einen kommerziellen Anbieter nur in ausgewählten Situationen zurück.
Das Problem mit Anbietern kommerzieller Videosprechstunden
Die kommerzielle Entwicklung auf dem Gebiet der Telemedizin ist meiner Meinung nach nicht ganz unproblematisch und sollte kritisch betrachtet werden. Ich glaube nicht, dass die kommerziellen Anbieter von Videosprechstunden auf längere Sicht mit der Hausärztin/dem Hausarzt „konkurrieren“ und dadurch das vertrauensvolle Arzt-Patienten-Verhältnis schwächen werden. Insbesondere dann nicht, wenn mehr und mehr Hausärztinnen/Hausärzte Videosprechstunden anbieten.
Als Hausärztin von Kindern und Jugendlichen möchte ich natürlich auch in Zukunft für meine Patientinnen/meinen Patienten die erste Ansprechpartnerin sein und sie nicht nur einmal im Jahr bei den Vorsorgeuntersuchungen oder „ernsten“ medizinischen Problemen treffen. Ein seltener Kontakt zu meinen Patientinnen/Patienten, wenn sie zum Beispiel vorrangig kommerzielle digitale Dienste in Anspruch nehmen würden, erschwert mir den Aufbau einer vertrauensvollen Arzt-Patienten-Beziehung. Diese ist meiner Meinung nach jedoch gerade in der Kinder- und Jugendmedizin von entscheidender Bedeutung. Patientinnen/Patienten, die aus verschiedenen Gründen oft die Ärztin/den Arzt wechseln (oder wechseln müssen), werden verstehen, was ich damit meine.
Medizinischer Standard und Videosprechstunde
Auch wenn ich glaube, dass die meisten zertifizierten Videosprechstundenanbieter in Deutschland einen hohen medizinischen Standard bieten, sehe ich die Gefahr, dass mitunter Krankheiten per Videosprechstunde „behandelt“ werden, bei denen eigentlich eine körperliche Untersuchung angeraten wäre.
Ein Antibiotikum zum Beispiel darf natürlich nicht „nur sicherheitshalber“ ausgestellt werden, weil die Online-Ärztin/der Online-Arzt unsicher bei der Diagnosestellung ist. Um zwischen einer viralen oder bakteriellen Ursache einer Infektion unterscheiden zu können, reicht es in vielen Situationen einfach nicht, die Patientin/den Patienten „nur“ per Bildschirm zu untersuchen. Antibiotika-Resistenzen sind ein zunehmendes Problem in der Medizin und die Indikation zur antibiotischen Therapie sollte daher äußerst streng und mit Bedacht gestellt werden.
Eine Grenze zwischen medizinischen Beschwerden, die per Videosprechstunde behandelt werden können und denen, die persönlich der Ärztin/dem Arzt vorgestellt werden müssen, zu ziehen, ist sicherlich nicht einfach. Das setzt viel Erfahrung und ein breites Fachwissen voraus.
In ausgewählten Situationen kann ein kommerzieller Anbieter für Videosprechstunden hilfreich sein
Ich habe prinzipiell als digitalaffine Ärztin nichts dagegen, dass man solche kommerziellen Dienste nutzt, wenn die richtige Indikation vorliegt. In ausgewählten Situationen kann das sogar für die Eltern/Patientinnen/Patienten sehr hilfreich und sinnvoll sein.
Dieses gilt zum Beispiel in Zeiten, in denen die eigene Kinderärztin/der eigene Kinderarzt nicht erreichbar ist und sich durch eine Videosprechstunde möglicherweise die Vorstellung in einer Rettungsstelle vermeiden lässt. Dieses gilt aber auch für Eltern und Kindern, die aus verschiedenen Gründen (Umzug) noch keine Kinderärztin/keinen Kinderarzt gefunden haben oder gerade im Urlaub sind und schnelle Hilfe brauchen. Auch für ländlich wohnende Patientinnen/Patienten, die einen sehr weiten Anfahrtsweg zu ihrer Ärztin/ihrem Arzt haben, könnte ich mir in bestimmten Situationen den sinnvollen Einsatz einer kommerziellen Videosprechstunde vorstellen. Dazu kommt, dass in ländlichen Bereichen viele Kinderarztpraxen an ihrer Kapazitätsgrenze arbeiten und daher mitunter über eine Entlastung dankbar sind.
Zu guter Letzt
Sei dir immer bewusst, wie wertvoll der persönliche Kontakt zu eurer Kinderärztin/eurem Kinderarzt ist. Jedes tiefergehende medizinische Problem sollte daher nur mit der Ärztin/dem Arzt eures Vertrauens besprochen werden. Die Videosprechstunde kann in bestimmten Situationen sinnvoll sein, aber sie wird niemals eure Kinder- und Jugendärztin/euren Kinder- und Jugendarzt ersetzen.
Ich wünsche mir, dass in Zukunft mehr Ärztinnen/Ärzte die Vorteile der Videosprechstunde erkennen und sie ihren Patientinnen/Patienten zur Verfügung stellen. So wird es nicht zu einem „inflationären“ Nutzen kommerzieller Anbieter für Telemedizin kommen und die vertrauensvolle Arzt-Patienten-Beziehung wird auch weiterhin nicht gefährdet sein.
Die Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass unsere digitale Infrastruktur dahingehend ausgebaut wird, allen Mitbürgerinnen/Mitbürgern uneingeschränkte digitale Teilhabe zu ermöglichen.