Digitale Medizin: Fluch oder Segen?

Digitaler Wandel – was für einige eine großartige Herausforderung mit einzigartigen Chancen ist, ist für andere ein leidiges Übel. Auf meinen Mann zum Bespiel trifft – zumindest im privaten Bereich – eher letzteres zu. Er weigert sich nach wie vor standhaft, sein uraltes Tastenhandy gegen ein modernes Smartphone einzutauschen. 

Seine stetig wachsende Sammlung an Vinylplatten zieht mein Mann Musikstreaming-Diensten vor, soziale Medien interessieren ihn nicht und die große Auswahl an Apps, die seinen Alltag beachtlich erleichtern könnten, lassen ihn kalt. Ich beobachte fasziniert, wie er sich mit seinem altertümlichen Gerät durch den Alltag schlägt und frage mich, wie lange das überhaupt noch machbar ist.

Schweden: Vorreiter in der Digitalisierung

Mein Mann ist Arzt und arbeitet in Schweden. Er lebt also in dem Land, welches nicht nur für seine Seen, Wälder und roten Holzhäusern bekannt ist, sondern auch für seine weit vorangeschrittene Digitalisierung. Eine Entwicklung, die sogar vor der Medizin keinen Halt macht. 

Im Arbeitsleben hat man Mann viel mit digitalen Lösungen zu tun. Auch wenn er keinen großen Vorteil in der “Digitalisierung seines Privatlebens” sieht, beruflich weiß er die vielen Vorteile der “digitalen Medizin” sehr zu schätzen. 

Deutschland: Nachzügler in der Digitalisierung

Wie du sicherlich schon weißt, habe auch ich einige Jahre in Schweden als Ärztin gearbeitet. Mein Mann und ich haben bedeutende Meilensteine der Digitalisierung des schwedischen Gesundheitssystems, wie zum Beispiel die Einführung der digitalen Patientenakte, des E-Rezeptes und der E-Überweisungen, miterlebt.

Beide sind wir 2016 aus privaten Gründen zurück nach Deutschland gezogen und beide waren wir erschrocken, wie rückständig unser deutsches Gesundheitssystem in der Anwendung digitaler Techniken im Vergleich zu Schweden ist. Mein Mann hat sich schnell entschlossen, wieder nach Schweden zu gehen, um dort zu arbeiten (es gab für diese Entscheidung noch einige andere Gründe). Ich bin in Berlin geblieben und ärgere mich sehr häufig über die technologische Rückständigkeit des deutschen Gesundheitssystems.

Routinen in meinem Praxisalltag als Kinder- und Jugendärztin, die ich früher überhaupt nicht als störend wahrgenommen habe, irritieren mich plötzlich sehr. Es ist nicht verwunderlich, wenn man weiß, dass viele Prozesse im Praxisalltag auch einfacher umgesetzt werden könnten. Meine Erfahrung aus Schweden hat mir das zumindest gezeigt.

Diese Erfahrung ist übrigens auch einer der Beweggründe, warum ich mein Projekt “Rock my Health” gestartet habe. Ich möchte u.a. zeigen, dass es an der Zeit ist, die Digitalisierung in der Medizin nicht als leidiges Übel zu sehen, sondern als Chance.

Ach herrje, schon wieder ein neues Quartal!

Mit einigen Routinen im deutschen Praxisalltag kann ich mich – wie schon erwähnt – nur schwer anfreunden. Vor allem möchte ich das quartalsweise Vorstellen des Patienten für kleinere Anliegen, wie z.B. dem Abholen einer (Folge-)Überweisung oder eines (Folge-)Rezeptes, nennen. Ein bürokratischer Prozess, der den Patienten und dem Praxisteam gleichermaßen viel Zeit und Aufwand kostet.

So einfach es in Schweden war, jedem Patient zu jeder Zeit digital ein Rezept zukommen zu lassen, so schwierig stellt sich dieser Prozess in Deutschland dar. Zunächst muss der Patient in die Praxis kommen und seine Versichertenkarte wird eingelesen. Der Arzt stellt am Computer das Rezept aus und dieses wird dann meist von einer/einem medizinischen Fachangestellten ausgedruckt. Selbstverständlich darf der Arzt nicht vergessen, das Rezept persönlich zu unterschreiben. Vergisst er es, so ist das Rezept nicht gültig.

Eine ähnlich aufwendige Prozedur wird in deutschen Praxen bei Krankschreibungen, Überweisungen, Heilmittelverordnungen, Kuranträgen und Bescheinigungen fällig. Du kannst dir sicherlich gut vorstellen, dass die digitale Lösung für das Ausstellen dieser Dokumente viel Zeit sparen könnte, und das nicht nur für das Praxisteam, sondern vor allem auch für die Patienten. Zeit, die man meiner Meinung nach deutlich besser nutzen könnte.

Ist der Entlassungsbrief aus dem Krankenhaus immer noch nicht angekommen?

Das ist eine Frage, die ich von meinen Patienten oft zu hören bekomme. Ähnliches gilt auch für Befunde, wie zum Beispiel von Röntgenuntersuchungen oder von anderen Spezialuntersuchungen, die nicht in unserer Praxis durchgeführt werden (Echokardiographie etc.).

Ich vermisse in Deutschland also den schnellen Zugriff auf Befunde von anderen Leistungserbringern. Zu den Leistungserbringern im Gesundheitswesen zählen neben Vertragsärzten u.a. auch Physiotherapeuten, Ergotherapeuten und Logopäden sowie die Krankenhäuser. In Schweden hatte ich auf diese Befunde stets Zugriff. Arztbriefe, radiologische Befunde, Laborergebnisse etc. werden nämlich dort zentral direkt in der digitalen Krankenakte des Patienten gespeichert.

Im Gegensatz dazu werden in Deutschland medizinische Befunde und Arztbriefe meist noch in Papierform verschickt. Sie kommen daher teilweise mit erheblichen Verspätungen in den Arztpraxen an. Treffen diese Befunde schließlich ein, dann werden sie manuell eingescannt und in das praxiseigene Verwaltungssystem integriert. Die Befundpapiere werden im Anschluss daran vernichtet. Bei uns in der Praxis werden sie geschreddert – ein sehr zeitaufwendiger Prozess, der ebenfalls Personal bindet.

Das Zuschicken von Befunden ist somit nicht nur Papierverschwendung, sondern auch Verschwendung von personellen Ressourcen. Nicht selten führt dieses aufwendige Verfahren zu erheblichen Verzögerungen im Behandlungsmanagement eines Patienten.

Ohne Faxgerät geht es (noch) nicht

Das Faxgerät spielt auch in der heutigen Zeit in vielen deutschen Arztpraxen eine besonders wichtige Rolle. Es kommt immer wieder vor, dass Befunde kurzfristig von zum Beispiel ärztlichen Kolleginnen oder Kollegen angefragt werden. Die Papiere werden dann aus dem Praxisverwaltungssystem ausgedruckt und anschließend gefaxt. Häufig kommt der Patient auch direkt in die Praxis, um die Befunde persönlich abzuholen und diese dann dem anfragenden Arzt zukommen zu lassen. Ein altmodisches Vorgehen, Befunde zwischen Leistungserbringern zu transferieren.

Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen

All diese oben aufgeführten Prozesse können digitalisiert werden und somit zu erheblichen Entlastung von Patient und Praxen führen.

Nun hast du sicherlich schon mitbekommen, dass die Digitalisierung der Medizin mittlerweile auch vor Deutschland nicht Halt macht. Durch sie erlebt das Gesundheitswesen bei uns gerade einen Wandel, den es in dieser Form noch nie zuvor gegeben hat. Große Veränderungen kommen auf Patienten und medizinische Leistungserbringer in naher Zukunft zu. Themen wie elektronischen Patientenakte (ePA), E-Rezept, Kommunikation im Medizinwesen (KIM), Telemedizin, digitale Gesundheitsanwendungen und Datenspende sind in aller Munde.

Nicht jedem gefällt diese Entwicklung, und die verschiedenen digitalen Lösungsangebote werden zum Teil sehr kontrovers diskutiert. Zusammen mit dir möchte ich in meinen nächsten Magazinbeiträgen, Herausforderungen und Chancen der neuen Techniken näher unter die Lupe zu nehmen.

Datensicherheit

Ich weiß, dass es bei vielen Menschen Bedenken hinsichtlich der Datensicherheit gibt. Möglicherweise müssen wir gewisse Einschränkungen diesbezüglich akzeptieren, wenn wir die umfassenden Vorteile der digitalen Patientenakte und der anderen Anwendungen nutzen wollen.

Notfall- und Medikamentenpläne retten Leben

Mein Mann wird häufiger in der Rettungsstelle eines großen Stockholmer Krankenhauses eingesetzt. Er berichtet, dass die digitale Patientenakte seiner Meinung nach schon häufiger Menschen buchstäblich das Leben gerettet hat.

In der schwedischen Akutmedizin weiß das Team in der Notaufnahme, noch bevor ein Patient mit der Ambulanz im Krankenhaus eingetroffen ist, welche Vorerkrankungen er hat und welche Medikamente er nimmt. Es weiß um mögliche Allergien und auch um mögliche Besiedlung mit multiresistenten Keimen. Kurzum, das Krankenhauspersonal hat einen deutlichen Zeit- und Informationsvorsprung vor Kollegen, denen eine elektronische Patientenakte nicht zur Verfügung steht. Natürlich können diese Informationen sehr bedeutsam für die Behandlung sein und in bestimmten Situationen sogar Leben retten.

Schweden: Ein “Paradies” für die Registerforschung

Ganz zum Schluss möchte ich dich noch auf einen Punkt aufmerksam machen, der bei uns in Deutschland bisher kaum diskutiert wurde und in den Kinderschuhen steckt: die Datenspende. Doch was ist das genau?

Datenspende ist, wenn du als Patient deine (anonymisierten) Gesundheitsdaten – wie zum Beispiel Laborbefunde, Beschwerdetagebücher, Medikamentenpläne etc. – der medizinischen Forschung zur Verfügung stellst. Aus diesem großen Pool an medizinischen Daten können Wissenschaftler Analysen durchführen und neue Erkenntnisse für die Medizin gewinnen. Erkenntnisse, die Patienten in Zukunft ggf. einmal zu Gute kommen könnten.

Die Schweden nutzen diese gigantischen medizinischen Datenmengen schon seit vielen Jahren für die Registerforschung. Bei uns gibt es gesellschaftspolitische Bedenken für diese Art von Untersuchungen. Mit der Digitalisierung wird die Diskussion über die Vor- und Nachteile der Datenspende wieder ordentlich befeuert und vielleicht kommt man ja zu dem Entschluss, dass die Vorteile überwiegen. Mich persönlich würde das freuen.

Deine Meinung ist gefragt

Nun habe ich viel von meiner Einstellung zum digitalen Wandel im Gesundheitswesen geschrieben. Mich würde nun deine Sicht auf dieses spannende Thema interessieren. Ich bin immer wieder verwundert, dass Patienten sich trotz teilweise deutlicher Missstände im Gesundheitswesen kaum beschweren und dass sie, wenn es um ihre Gesundheit geht, Umstände in Kauf nehmen, die sie in anderen Bereichen ihres Lebens nicht akzeptieren würden. Warum ist das so? Was hälst du von der elektronischen Patientenakte? Würdest du sie nutzen oder sind deine Bedenken hinsichtlich des Schutzes deiner persönlichen Daten zu groß? Schreib mir gerne unten im Kommentarfeld deine Meinung.


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